Demut und Selbstverleugnung erlangen die Gnade der Andacht

Der Geliebte spricht:
1. Du musst inständig um die Gnade der Andacht flehen, sie geduldig und vertrauensvoll erwarten, sie dankbar annehmen, demütig bewahren, eifrig mit ihr mitwirken. Aber unterdessen lass Gott Zeitpunkt und Weise der himmlischen Heimsuchung bestimmen.
Solange du innerlich nur wenig oder überhaupt keine Andacht verspürst, demütige dich vor allem, ohne jedoch allzu niedergeschlagen oder unvernünftig betrübt zu werden. Gott verleiht oft in einem einzigen Augenblick, was Er uns lange vorenthalten hat. Bisweilen schenkt Er am Ende des inneren Gebetes, was Er am Anfang verweigerte.
2. Würde uns die Andacht immer sofort zuteil, stellte sie sich nach Wunsch und Willen ein, ertrüge es der schwache Mensch nicht wohl. Deshalb ist die Gnade der Andacht in Hoffnung und mit demütiger Geduld zu erwarten. Doch schreibe es dir und deinen Sünden zu, wenn sie ausbleibt oder auch insgeheim wieder verschwindet.
Etwas Geringfügiges kann sie bisweilen aufhalten oder verschütten, wenn überhaupt geringfügig genannt werden darf, und nicht vielmehr bedeutend heißen muss, was einer derartigen Wohltat im Wege steht. Entfernst du dieses Geringfügige oder Bedeutende, oder meisterst du es wenigstens vollständig, wird dein gebet Erhörung finden.
3. Sobald du dich nämlich aus ganzem Herzen Gott aushändigst und nicht mehr nach Lust und Laune diesem oder jenem Ding nachläufst, sondern restlos Gott angehörst, wirst du gottverbunden und ruhig. - Nichts ist so köstlich und beruhigend zugleich, wie die Hingabe an Gottes Willen.
Erhebt jemand also seine Meinung einfältigen Herzens zu Gott und entsagt er jeder ungeordneten Liebe und allem Widerwillen gegenüber irgendeinem Geschöpf, steht er dem Empfang der Gnade weit offen und verdient die Andachtsgnade.
Sobald der Herr ein Gefäß leer findet, kann Er Seinen Segen hineingießen. Je vollständiger jemand die niederen Dinge aufgibt und sich durch Selbstverleugnung abstirbt, umso schneller erscheint die Gnade, umso reichlicher fließt sie und erhebt das Herz umso höher zu Gott empor.
4. Entzückt bemerkt man dann, was einem bisher entging; besitzt es in Fülle; und das Herz weitet sich, denn der Herr ist mit einem, wie man sich selber Ihm restlos und für allezeit überließ. Dieses Glück begegnet dem, der Gott von Herzen sucht und “seine Seele nicht umsonst empfangen hat”.
Tritt er zur hl. Kommunion hinzu, wird ihm die große Gnade der Gottvereinigung zuteil; er geht ja nicht auf seine persönliche Andacht und Tröstung aus, sondern über aller Andacht und Tröstung auf Gottes Ehre und Verherrlichung.

Aus: Thomas von Kempen, Die Nachfolge Christi. 4. Buch, 15. Kapitel. Benzinger Verlag 1979, S. 301f.

 

 
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